Dr. Marcus Faber

Reise in die Ukraine: Respekt vor Deutschland mischt sich mit Unverständnis

Es ist 4 Uhr 20. Die Fensterscheiben wackeln. Die Alarmanlagen der Autos werden von der Druckwelle der eingeschlagenen Rakete aktiviert. Es waren wohl 300 Meter Abstand – Tag 5 meiner siebentägigen Ukrainereise beginnt.

Wenn man in einer europäischen Millionenstadt lebt, kämpft man mit vielen Alltagsproblemen – Kita-Plätze, Mieterhöhung, Work-Life-Balance. In Charkiw ist Raketenbeschuss das drängendste Alltagsproblem, Tag für Tag.

Von Berlin könnte man mit dem Flugzeug in zwei Stunden in Kiew sein. Es fliegt aber kein Flugzeug, weil Putin es abschießen würde. Also fahre ich mit dem Zug, 30 Stunden lang. Ich fahre nach Kiew, dann weiter nach Charkiw, dann nach Kramatorsk, weil ich mit jenen reden will, die Putins Krieg gegen die Ukraine am stärksten betrifft, den Ukrainerinnen und Ukrainern.

Anschaulich wird der Ernst der Lage zuerst in Przemyśl an der polnisch-ukrainischen Grenze. Hunderte Menschen warten bei über 30 Grad stundenlang in der Sonne auf die Passkontrolle. Es sind vor allem Frauen, ältere Menschen, wenige Ausländer. Mit viel Gepäck sind sie auf dem Rückweg in die Ukraine. Sie wollen nach Hause. Mir gegenüber sitzt eine Frau, die jetzt monatelang in Dortmund war. Sie fährt nach Charkiw zu ihrem Mann, aber rät mir davon ab. Es sei gefährlich.

In Kiew angekommen, gibt es viel Gesprächsbedarf. Außen- und Verteidigungsministerium, Treffen mit Abgeordneten, NGOs, Gespräche mit Soldaten. Mich beeindruckt in allen Gesprächen die Mischung aus Entschlossen- und Gelassenheit. Sie alle hier wissen jetzt – knapp sechs Monate nach Beginn von Putins Überfall – dass sie diesen Krieg gewinnen werden. Sie sind sich so sicher, weil sie schon so viel geleistet haben. Sie haben Putins Sturm auf Kiew abgewehrt. Sie haben die „Moskau“ versenkt.

Sie fragen sich nur, wann der Krieg beendet sein und wie viele ihrer Mitmenschen bis dahin getötet werden. Getötet an der Front, getötet beim Einkauf im Supermarkt, getötet durch Raketeneinschlag in der eigenen Wohnung. Bei allen Gesprächspartnern dominiert ein Thema: Die Notwendigkeit militärischer Hilfe, um sich zu verteidigen. Niemand versteht, warum Deutschland so wenig tut. Respekt vor der Größe und Bedeutung Deutschlands mischen sich mit Unverständnis, warum unsere Republik nicht zumindest soviel tut wie Polen oder Großbritannien. Wir hätten doch diese „Zeitenwende“. Wann komme die denn?

Melancholisch ist die Stimmung, wenn von den Kriegsverbrechen berichtet wird – nicht im Präteritum, sondern im Präsens. Butscha ist kein Einzelfall. Raketenalarm unterbricht das Abendessen nur kurz. Die Ausgangssperre beendet das tagsüber fast zivil wirkende Leben. Nachts ist Kiew dunkel und leer.

146 Krankenhäuser in der Region seien beschossen worden

Charkiw ist mein zweiter Stopp. Die Stadt von der Größe Münchens liegt dicht an der Front. Die ukrainischen Streitkräfte haben die Invasionstruppen so weit zurückgedrängt, dass diese die Stadt nicht mehr mit Artillerie beschießen können, sondern nur noch mit Raketen. Und das tun sie auch. Der Bezirksstaatsanwalt berichtet mir von Kriegsverbrechen. 146 Krankenhäuser in der Region seien beschossen worden, tausende Wohnhäuser.

Gebraucht werden Trucks und Jeeps, um die Armee zu versorgen. Gebraucht werden Schutzwesten, Nachsichtgeräte und Drohnen. Gebraucht werden Artillerie und Panzer aller Art – Truppentransport-, Schützen- und Kampfpanzer. Mich beeindruckt vor allem, wie die Zivilgesellschaft sich selbst organisiert, um die Ausrüstungslücken der Armee zu schließen. Die Stiftung Pyrtula sammelt Geld und kauft damit zum Beispiel Aufklärungsdrohnen – unfassbar und unfassbar nötig und effizient.

Er berichtet von Clusterbomben, die tagsüber Parkanlagen beschießen, die Frauen und Kinder töten. Er berichtet von Mord und von Vergewaltigung durch die Invasionstruppen. Er zeigt mir einen Teil der täglich einschlagenden Raketen. Hunderte Raketenreste feinsäuberlich sortiert. Er wolle die Kriegsverbrechen dokumentieren, aufklären, Anklage erheben. Der Ermittlungsaufwand sei sehr groß und sein Personal überlastet, aber man werde das schon schaffen. Auf den Weg gibt er mir zentimetergroße Metallwürfel mit. Millionen davon stecken in den russischen Raketen, die Tag für Tag auf die Stadt niedergehen.

Mit dem örtlichen Chef der Verteidigung fahre ich weiter nach Norden. Nach einigen Checkpoints kommen wir an der zweiten Verteidigungslinie an. Ich rede mit einem Soldaten um die 50. Er wirkt gut gelaunt und etwas drollig. Er ist Rechtsanwalt und hat sich freiwillig gemeldet. Seit einigen Tagen ist er in dieser Stellung und recht optimistisch, dass die Russen nicht bis hierher durchbrechen werden. Sein Chef hingegen wird mit jeder Minute nervöser. Wir fahren zurück in die Stadt.

Am Nachmittag kann ich in einem Vorort ein Krankenhaus besuchen, das von den Invasionstruppen bombardiert wurde. Die Direktorin berichtet von der Sanierung im letzten Jahr – auch mit Geldern aus der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Schrapnelle haben das Gebäude durchschlagen. Es gab Verletzte, aber zum Glück keine Toten. Sie klagt darüber, dass ihr MRT geprüft werden muss, bevor man es wieder benutzen kann, aber die Prüfer kommen nicht. Niemand möchte hierher fahren, um ein MRT zu prüfen.

Endlose Sonnenblumenfelder säumen den Weg

Der Weg von Charkiw in den Donbass ist weit. Weil die Invasionstruppen das Gebiet dazwischen kontrollieren, ist ein Umweg notwendig. Endlose Sonnenblumenfelder säumen den Weg. Es wirkt alles so friedlich, wären da nicht die Checkpoints. In Kramatorsk herrscht geschäftiges Treiben, aber ohne Einschläge. Menschen schwatzen auf der Parkbank. Kinder spielen auf der Wiese. 50 Meter weiter heben Soldaten Schützengräben aus. Jeder weiß, dass die Russen kommen. Ein ukrainischer Soldat berichtet mir, dass sie ohne die HIMARS der USA schon bis an den Dnjepr zurückgeworfen worden wären. Sein Jeep hat das Lenkrad auf der anderen Seite – Militärhilfe aus Großbritannien. Ihn freut die Unterstützung. Man fühle sich nun nicht mehr so allein wie zu Beginn des Krieges. Ihn freut auch, dass sein Lenkrad auf der anderen Seite ist, weil der Jeep schon zwei Einschusslöcher hat. Mehr Jeeps und Trucks brauchen die Verteidiger – gerne auch gepanzert. Besonders schmerzhaft sei aber der Mangel an Artillerie und Munition. Die westlichen Waffensysteme findet er sehr hilfreich. Gebraucht werden nur viel mehr davon, denn „umso schneller werde man siegen“.

In den Dörfern vor Slowjansk bringen Bauern die Ernte ein. Einige Felder weiter brennt es. Russische Granaten haben ein trockenes Feld entzündet. Die Bauern ernten dennoch weiter. Es sei ja ein relativ ruhiger Tag.

Tagsüber wurde Charkiw bombardiert. Als ich abends zurück bin, kann ich mit einer Studentin aus der Kulturszene reden. Sie ist gut gelaunt und erzählt, wie sie damals die erste CSD-Demo organisiert haben, welche Probleme es in der Kommunalpolitik gebe und dass sie jetzt wieder Konzerte planen. Mit Sperrstunde müsse es halt früher losgehen – und in geschützten Räumen. Aus ihr spricht die Hoffnung, dass sich ihre Heimatstadt wieder aus Putins Griff lösen kann.

Zurück nach Berlin geht es mit der Bahn. Beim Umstieg in Kiew noch ein kurzes Gespräch. Es geht um die Einrichtung eines Kriegsverbrechertribunals für Putin und seine Clique. Sein Angriffskrieg muss gerichtlich bewertet werden - juristische Korrektheit im Kriegsgebiet. Ein Hauch von Nürnberg kommt auf. Es bleiben mir viele Eindrücke auf der Fahrt nach Berlin. Vor allem bleibt mir die Klarheit, dass dies kein Krieg zweier Staaten ist. Es ist Terror, mit dem Putins Armee die Ukraine überzieht. Krankenhäuser und Wohnviertel stehen täglich unter Beschuss. Angst soll geschürt werden. Es ist ein Land mit 44 Millionen Menschen, das auf beeindruckende Art und Weise zusammensteht. Ein Land, das sich durch den Terror Putins jeden Tag neu motiviert. Niemand will unter Putin leben.

Diese mutigen Ukrainerinnen und Ukrainer wollen, dass wir nicht wegschauen. Sie wollen, dass ihr Leid gehört wird. Geteiltes Leid ist halbes Leid. Dieses Leid ist menschengemacht. Es wird ausgeführt von einer Invasionsarmee. Die Ukrainer werden diesen Kampf alleine führen. Sie sind sich sicher, dass sie ihn gewinnen. Von uns in Deutschland erwarten sie Mitgefühl und Hilfe in der Not. Sie erwarten, dass wir die Zeitenwende von Olaf Scholz umsetzen und ihnen schwere Waffen liefern.